×

Theorie und Anwendungen der absolut additiven Mengenfunktionen. (German) JFM 44.0464.03

Die inhaltsreiche, an die Arbeiten von H. Lebesgue, F. Rieß, E. Hellinger anknüpfende Abhandlung gliedert sich in acht Abschnitte. In dem ersten wird der Begriff einer absolut additiven Mengenfunktion eingeführt.
Unter den in dem “Intervalle” \(I =\left[\begin{matrix}\r & \r\\ M,\dots, & M \\ -M,\dots, &-M\end{matrix}\right]\) \((M>0)\) enthaltenen \(n\)-dimensionalen \((n\geqq 1)\) Mengen wird eine Klasse \(T\) ausgezeichnet, die folgenden Forderungen genügt:
a) Alle (halb offenen) Intervalle \(x_i'\leqq x_i < x_i''\) \((x_i' < x_i^{\prime\prime},\;i=1,\dots,n)\) gehören zu \(T\).
b) Gehören zwei Mengen \(E_1\) und \(E_2\) zu \(T\), so gehören auch ihr Durchschnitt \(E_1 E_2\), sowie die Menge \(E_1- E_2\) der Punkte von \(E_1\), die nicht Punkte von \(E_2\) sind, zu T.
c) Sind \(E_i\) \((i= 1, 2,\dots)\) abzählbar viele Mengen in \(T\) ohne gemeinsame Elemente (disjunkte Mengen), so gehört die Vereinigungsmenge \(\sum E_i\) zu \(T\). Offenbar enthält \(T\) alle im Borelschen Sinne meßbaren Mengen in \(I\). Wird jeder Menge \(E\) in \(T\) ein Wert \(f(E)\) zugeordnet, so heißt \(f(E)\) eine “Mengenfunktion mit dem Definitionsbereich \(T\)”.
Es seien \(E_i\) \((i = 1, 2,\dots)\) beliebige abzählbar viele disjunkte Mengen in \(T\). Ist \(\Sigma f(E_i)\) konvergent und (1) \(f(\Sigma E_i) = \Sigma f(E_i)\), so heißt \(f(E)\) “absolut additiv” (a. a.).
Offenbar konvergiert \(\sum f(E_i)\) stets unbedingt. Ist \(\sum^{1,\dots,n}_i E_i = E\) irgendeine Einteilung von \(E\) in disjunkte Bestandteile, so ist (2) \(\sum^{1,\dots,n}_i| f(E_i)| < N\) (\(N\) von \(E\) und \(E_i\) \((i = 1,\dots,n)\) unabhängig): Die a. a. Mengenfunktionen sind von beschränkter Schwankung (quasimonoton). Es gut \(f(E) = \varphi(E)-\psi(E)\), unter \(\varphi\) und \(\psi\) a. a. Mengenfunktionen verstanden, die \(\geqq 0\) sind (monotone a. a. Mengenfunktionen, m. a. a.).
Der Einfachheit halber wird jetzt \(n=2\) gesetzt, und es wird der folgende, die Lebesguesche Theorie des Maßes als speziellen Fall enthaltende Satz bewiesen: Zu einer jeden im Gebiete \(-M\leqq x\leqq M\), \(-M\leqq y\leqq M\) definierten, für \(x = - M\) und \(y =- M\) verschwindenden, im übrigen positiven, den Beziehungen \[ (3)\qquad F(a',b') - F(a',b)- F(a,b') + F(a,b)\geqq 0,\;a'\geqq a,\;b'\geqq b,\;\lim_{h,k=0}F(a-h,b-k)=F(a,b)\;(h,k\geqq 0) \] genügenden Funktion, gehört eine m. a. a. Mengenfunktion (m. a. a. M.) \(f(E)\), deren Definitionsbereich \(T\) den eingangs gestellten Forderungen genügt, so daß überdies \[ (4)\qquad f\left(\left[\begin{matrix}\l & \l\\ a' & b'\\ a & b\end{matrix}\right]\right)=F(a',b') - F(a',b) - F(a,b') + F(a,b) \] gilt. Die gefundene Funktion \(f\) hat überdies die Eigenschaft, daß nach Festsetzung von \(\varepsilon > 0\) in jeder Menge \(E\) in \(T\) eine abgeschlossene Menge \(E'\) so bestimmt werden kann, daß \[ (5)\qquad f(E)-f(E')<\varepsilon \] wird.
Ist umgekehrt \(f\) eine m. a. a. M., und nimmt man \[ (6)\qquad F(x, u) =f\left(\begin{vmatrix} \l & \l\\ x & y\\ -M & -M\end{vmatrix}\right)\;(-M<x\leqq M,\;-M<y\leqq M),\;0=F(x,-M),\;0=F(-M,y), \] so gewinnt man nach dem Vorstehenden eine m. a. a. M. \(f_1\) mit dem Definitionsbereich \(T_1\), der mit \(T\) alle im Borelschen Sinne meßbaren Mengen in \(I\) gemeinsam hat. Gehört E sowohl \(T_1\), als auch \(T\) an, so ist \(f(E)=f_1(E)\). In den Mengen von \(T_1\), die in \(T\) nicht enthalten sind, wird per definitionem \(f(E) = f_1(E)\) gesetzt, \(T_1\) ist der “natürliche Definitionsbereich” von \(f(E)\). Gilt (5), so enthält \(T_1\) ganz \(T\). In einer naheliegenden Weise wird dieser Begriff auf a. a. M. schlechthin übertragen.
Im folgenden wird stets (5) vorausgesetzt. Der natürliche Definitionsbereich läßt sich unter Einhaltung der Eigenschaft (5) nicht mehr erweitern.
Eine m. a. a. M. \(b(E)\) wird eine Basis der a. a. M. \(f(E)\) genannt, wenn für alle Mengen, für welche \(f(E)\) definiert und \(b(E) = 0\) ist) auch \(f(E) = 0\) ist. Der natürliche Definitionsbereich von \(f\) umfaßt denjenigen von \(b\).
In dem II. Abschnitt wird der Begriff des Stieltjesschen Integrals wie folgt verallgemeinert:
Sei \(F(P)\) eine auf einer Menge \(E_0\) von \(I\) erklärte, gleichmäßig stetige Funktion von \(x_1,\dots,x_n\) und \(f\) eine a. a. M., zu deren Definitionsbereich \(T\) auch \(E_0\) gehört. Es sei \(E_0=\sum^{1,\dots,n}_i E_i\), unter \(E_i\) disjunkte Mengen von \(T\) verstanden, und \(P_i\) irgendein Punkt in \(E_i\) \((i = 1,\dots,n)\).
Die Summe \(\sum^{1,\dots,n}_i F(P_i) f(E_i)\) nähert sich einem Grenzwert, wenn der größte “Durchmesser” \(\varPi\) der Teilungsmengen \(E_i\) gegen Null konvergiert: \[ (7)\qquad \lim_{\varPi=0}\sum^{1,\dots,n}_i F(P_i) f(E_i)=\int_{E_0}F(P) df. \] Eine andere Verallgemeinerung des Stieltjesschen Integrals wird gewonnen, wenn die auf \(E_0\) erklärte Funktion \(F(P)\) “meßbar bezüglich der a. a. M. \(f(E)\)” vorausgesetzt wird. Dies besagt, daß für alle \(A\) die Menge der Punkte \(P\), in welchen \(F(P) > A\) ist, zum Definitionsbereiche \(T\) von \(f\) gehört. Sei \(f\) zunächst monoton, \(F\geqq 0\), \[ 0 = y_0 < y_1 < \dots (y_{n+1}- y_n<\alpha,\;n = 0,1,\dots),\;lim_{n=\infty} y_n=\infty, \] \(E_k\) die Menge der Punkte von \(E\), so daß \(y_k\leqq F(P) < y_{k+1}\) ist. Hat der Ausdruck \[ (8)\qquad lim_{a=0}\sum^{1,\dots,n}_i y_if(E_i) \] eine bestimmte Bedeutung, so stellt er die fragliche zweite Verallgemeinerung des Stieltjesschen Integralbegrifis dar. Von hier aus gelangt man zu der allgemeinen Definition, wenn \(f\) eine schlechthin a. a. M. ist und \(F\gtrless 0\) sein kann (\(F\) bezüglich \(f\) summierbar).
Der dritte Abschnitt behandelt die stetigen linearen Funktionaloperationen. Es möge einer jeden auf einer abgeschlossenen Menge \(\delta_0\) (gleichmäßig) stetigen Funktion \(F(P)\) ein Wert \(U(F)\) zugeordnet sein, so daß \[ (9)\qquad U(F_1 + F_2) = U(F_1) + U(F_2), \lim_{n=\infty} U(F_n) = U(F) \] gilt, falls \(F_n\) für \(n =\infty\) gegen \(F\) auf \(E_0\) gleichmäßig konvergiert. Es ist \(| U(F)|\leqq N \text{Max} | F |\) (\(N\) = Maximalzahl der stetigen linearen Funktionaloperation).
Jede stetige lineare Funktionaloperation läßt sich in der Form \[ (10)\qquad U(F) =\int_{E_0} F df \] darstellen, unter \(f\) eine a. a. M., deren Definitionsbereich \(E_0\) enthält, verstanden.
Sei \(g(E)\) eine a. a. M. mit der Basis \(f(E)\) (\(f\) eine m. a. a. M.). In dem Definitionsbereich von \(f\) läßt sich \(g\) durch das verallgemeinerte Stieltjessche Integral \[ (11)\qquad g(E)=\int_E\varPsi(P)df, \] unter \(\varPsi\) eine bezüglich \(f\) summierbare Funktion verstanden, darstellen (IV. Abschnitt).
Der V. Abschnitt bringt eine Verallgemeinerung des Hellingerschen Integralbegriffes.
Es sei \(f(E)\) eine a. a. M., \(b(E)\) eine Basis von \(f\), \(E\) eine Menge des natürlichen Definitionsbereiches \(T\) von \(b\), \(\varPi\) irgendeine Teilung von \(E\) in eine endliche Anzahl disjunkter Teilmengen. Liegt der Ausdruck \[ (12)\qquad \sum^{1,\dots,n}_i\;\frac{|\varDelta f_i|^p}{(\varDelta b_i)^{p-1}}\quad (p>1), \] unter \(\varDelta f_i\), \(\varDelta b_i\) die Werte von \(f\) und \(b\) auf \(E_i\) verstanden (ist \(\varDelta b_i = 0\), so wird dabei \(\frac{|\varDelta f_i|^p}{(\varDelta b_i)^{p-1}}\) gleich Null gesetzt), für alle \(E\) und \(\varPi\) unterhalb einer festen Schranke \(M^p\), so heißt \(f\) zu der Klasse \(L_p(b)\) gehörig. Die obere Grenze von (12) für alle \(\varPi\) stellt bei festem \(E\) eine m. a. a. M. dar: \[ (13)\qquad \int_E\;\frac{| df|^p}{db^{p-1}}\,. \] Es möge jetzt \(g\) eine der Klasse \(L_{\frac{p}{p-1}} (b)\) angehörende Mengenfunktion, \(\varPi_n\) \((n = 1, 2,\dots)\) eine Folge von Teilungen der Menge \(E\) bezeichnen, so daß stets \(\varPi_{n+1}\) eine Unterteilung von \(\varPi_n\) ist. Es existiert der Grenzwert \[ (14)\qquad \lim_{n=\infty}\sum_E\;\frac{\varDelta f\varDelta g}{\varDelta b}=\int_E\frac{df\,dg}{db} \] und stellt eine a. a. M. dar.
Einer jeden Mengenfunktion der Klasse \(L_p(b)\) sei eine Zahl \(L(f)\) zugeordnet, und es sei \[ (15)\qquad L(f + g) = L(f) + L(g),\;| L(f)|\leq M, \text{ falls }\int_I\;\frac{| df|^p}{dp^{p-1}}\leq 1\text{ ist.} \] \(L(f)\) ist eine “beschränkte lineare Funktionaloperation im Gebiete der Klasse \(L_p(b)\)” (“Linearoperation vom Typus \(\left\{{p \atop b}\right\}\)”).
Es gilt \[ (16)\qquad L(f) = \int_I\;\frac{df\,dl}{db}\,, \] unter \(l(b)\) eine bestimmte zu der Klasse \(L_{\frac{p}{p-1}} (b)\) gehörende a. a. M. verstanden.
Es mögen weiter \(a\) und \(b\) zwei m. a. a. M. bezeichnen. Einem jeden Funktionenpaare \(\varphi\) und \(\psi\), die entsprechend zu \(L_p(a)\) und \(L_q(b)\) gehören, sei eine Zahl \(B(\varphi,\psi)\) zugeordnet, so daß \[ (17)\qquad B(\varphi_1 +\varphi_2,\psi_1+\psi_2)=B(\varphi_1,\psi_1)+B(\varphi_2,\psi_1)+B(\varphi_1,\psi_2)+B(\varphi_2,\psi_2), \]
\[ (18)\qquad | B(\varphi,\psi)| \leqq M\quad (M \text{ konstant)}, \] sobald \[ \int_I\;\frac{| d\varphi|^p}{da^{p-1}}\leqq 1,\quad \int_I\;\frac{| d\psi|^q}{db^{q-1}}\leqq 1. \] \(B\) heißt eine “beschränkte bilineare Funktionaloperation vom Typus \(\left\{{p,\;q\atop a,\;b}\right\}\)”. Über die beschränkten linearen und bilinearen Funktionaloperationen wird in den Abschnitten VI und VII eine lange Reihe wichtiger Sätze abgeleitet, über die auf das Original verwiesen werden muß.
Sei, unter \(E\) und \(\overline E\) zwei zu dem Definitionsbereiche von \(a\) gehörige Mengen verstanden, \[ (19)\qquad u_E(\overline E) = a(E\overline E),\quad l_\psi(E) = B(u_E, \psi). \] \(l_\psi\) ist für jedes \(\psi\) von \(L_q(b)\) eine a. a. M. der Klasse \(L_{\frac{p}{p-1}}(a)\).
Durch (19) ist eine “beschränkte lineare Funktionaltransformation” \(l_\psi = B[\psi]\) definiert.
Ein Hauptproblem der Theorie ist die Auflösung der Funktionalgleichung \[ (20)\qquad B[\psi] =\varPsi, \] unter \(\varPsi\) eine gegebene Mengenfunktion der Klasse \(L_{\frac{p}{p-1}}(a)\), unter \(\psi\) eine zu \(\varPsi\) bestimmende Mengenfunktion der Klasse \(L_q(b)\) verstanden.
In Anlehnung an F. Rieß wird eine für die Lösbarkeit notwendige und hinreichende Bedingung gegeben. Hieran schließt eine Kette weiterer wichtiger Betrachtungen, insbesondere über “normale” Bilinearoperationen \((q = \frac{p}{p-1}\), \(a=b\)), “Fredholmsche Transformationen” usw.
Der letzte, achte Abschnitt bringt einige Anwendungen. Sei \(\varphi_1\) \(i =1, 2, \dots)\) eine Folge von Mengenfunktionen der Klasse \(L_p(a)\). In Verallgemeinerung eines Satzes von F. Rieß wird eine notwendige und hinreichende Bedingung für die Lösbarkeit der unendlich vielen Gleichungen \[ \int_I\;\frac{d\varphi_kd\psi}{da}= a_k,\quad (k= 1, 2,\dots) \] unter \(a_i\) \((i= 1, 2,\dots)\) eine beliebige gegebene Wertfolge, unter \(\psi\) eine zu bestimmende Funktion der Klasse \(L_{\frac{p}{p-1}}(a)\) verstanden, abgeleitet. Unter zahlreichen anderen Ergebnissen sei ein weitreichendes Kriterium für die Gültigkeit der Fredholmschen Fundamentalsätze hervorgehoben.

PDFBibTeX XMLCite