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Mechanical memorizing and coding around 1430. Johannes Fontanas Tractatus de instrumentis artis memorie. (Mechanisches Memorieren und Chiffrieren um 1430. Johannes Fontanas Tractatus de instrumentis artis memorie.) (German) Zbl 1182.01006

Boethius. Texte und Abhandlungen zur Geschichte der Mathematik und der Naturwissenschaften 59. Stuttgart: Franz Steiner Verlag (ISBN 978-3-515-09296-8/hbk). 167 p. (2009).
Johannes Fontana (um 1390 – um 1455) aus Venedig, ein typischer Gelehrter Paduaner Prägung, schrieb einen Tractatus de instrumentis antis memorie, “eine illustrierte Abhandlung von 1430, die sich mit Memorieren und Chiffrieren befaßt.” (S. 11)
Einleitung: Memorieren: “Bestimmte, noch kaum behandelte Techniken der ars memorandi, über die man in der Frührenaissance nachdachte\(\dots\)” (S. 11) – Chiffrieren: “\(\dots\) memorierbare Informationen (Klartext) zu übermitteln und sie durch ein Chiffrat abzusichern\(\dots\) erhielt in der Renaissance\(\dots\) eine besondere Dringlichkeit.” (S. 11)
Fontana stellte eine Generation vor der heute allgemein angenommenen Entstehungsphase dieser Ideen die ersten Techniken und Geräte der sog. klassischen Kryptologie in Wort und Bild dar. – Anagramm: Seit der frühen Neuzeit waren Forscher stark um die Sicherung ihrer Erkenntnisse gegen Plagiate bemüht. “Wenn es \(\dots\) um eine Entdeckung ging, die sich ganz kurz zusammenfassen ließ, war die Formulierung dieser Erkenntnis in der Form eines Anagramms ein sicheres Verfahren. Der Text wurde einfach derart umgestellt, dass sein Ursprung nur mit einer vom Geheimnisträger gegebenen Anleitung erschlossen werden konnte.” (S. 12) – Substitution: “Die heutige Kryptologie als eine Wissenschaft zwischen Mathematik und Informatik sieht in ihrer eigenen Geschichtsschreibung den Anfang systematischer und ernst zu nehmender kryptologischer Techniken zur sicheren Übermittlung geheimer Nachrichten bei Leon Battista Alberti (1404–1472).” (S. 13): Chiffrierscheibe von 1466.
Vigenère-Technik: Auf Alberti führt man als Grundidee zurück: “In einer vorher vereinbarten Weise wird von einem Symbol zum nächsten gegebenenfalls ein veränderter Offset-Schlüssel verwendet, so dass eine Häufigkeitsanalyse auch bei langen Klartexten nicht mehr funktioniert.” (S. 14) 1586 entwickelte Blaise de Vigenère (1523–1596) folgende Methode: Der Offset [= Angabe eines ‘Versatzes’] ändert sich periodisch von Buchstabe zu Buchstabe. – Die Verff. stellen fest: Fontanas “Zeichnungen lassen den Schlußzu, dass die von ihm rund 30 Jahre vor Alberti behandelten Geräte ebenfalls periodisch wechselnde Schlüssel hätten verwenden können.\(\dots\) Die Geräte Fontanas sind vermutlich in der Lage gewesen, kryptologische Funktionen zu erfüllen.”
(S. 14)
Der heutige Stand: Nach Aufzählen von Verschlüsselungsmethoden, Blick zurück: Wissenschaft und Technik, Theorie und Anwendung griffen ineinander und kennzeichneten Fontanas Wirken; als dieser “um 1430 die knappe, in sich geschlossene Abhandlung verfaßte und in eine größere, mnemotechnische Schrift einfügte, ließer in dem Werk als Ganzes zwei Entwicklungen der frühen Renaissance zusammenfließen: den Aufschwung der Mnemotechnik und der Kryptologie.” (S. 15) “Memorieren und Chiffrieren gehörte für Fontana offenbar zusammen\(\dots\)” (S. 16)
Teil I Der Autor und sein OEuvre im Überblick: Neuigkeiten oder Erfindungen zu präsentieren und Anregungen zu geben war Fontanas erklärtes Anliegen; in Padua studierte er die Artes liberales und Medizin; in den 1430ern Landarzt in Friaul; 40 Jahre lang schriftstellerisch tätig, er verfaßte etwa 25 unterschiedliche Abhandlungen. Vorgestellt werden zehn erhaltene Traktate – teils Pergament, teils Papier – in Wien, Bologna, München, Paris, Oxford, bzw. unklarer Besitz: Räder, Zahnräder, künstliche Brunnen (1); Sanduhr (2); Wasseruhr (3); “Bewegung im Wasser, auf der Erde und in der Luft \(\dots\) Messen von Wassertiefen, Ebenen und Höhen durch Zeit” (S. 29) (4); technische etc. Geräte gemäßCod. icon. 242, BSB München (5); “In gleicher Geheimschrift wie die Münchener Abhandlung verfaßte Fontana um 1430 seinen Traktat über die Gedächtniskunst. Das Werk bildet den Rahmen für den Tractatus de instrumentis” (S. 32) (6); Meßdreieck (7); Optik, Geometrie und Algebra gemässGerhard vn Cremona etc. (8); Medizin (9); Enzyklopädie (10); mit Abbildungen. Sinngemäßwerden elf nicht erhaltene Schriften aufgrund eigener Hinweise Fontanas aufgeführt, sowie vier “angekündigte Werke”. Technische, phsikalische, astronomische, medizinische und mathematisch-geometrische Themen dominierten Fontanas Abhandlungen bis 1440. Knapp, doch deutlich stellen die Verff. die hier anstehende Thematik – parates philosophisches, technisches und Allgemeinwissen; auch Poeten – als Basis für Fondanas Schaffen vor; er selbst sah sich als verus amator sapientiae atque doctrinae; wieso aber taucht der Name Johannes Fontana in der wissenschaftlichen Literatur erst 1781 auf?
3 Die Einheit von Wissenschaft und Technik: “Was die Schriften des ehrgeizigen Autors Johannes Fontana auszeichnet, ist die Verknüpfung von Wissenschaft und Technik. Dabei fließen aktuelle Entwicklungen ein. \(\dots\) In den Entwürfen zum Bau von Uhren und zur Messung von Höhen, Wassertiefen und Längen mit Hilfe der Stoppuhren fand das Thema nun bei dem Technikliebhaber Fontana praktische Anwendung.” (S. 49) “Im Jahr 1418 und vorher schrieb Fondana \(\dots\) für noch jüngere, technikinteressierte Leser \(\dots\) Fontana wendet die Sprache und Terminologie der Wissenschaften auf Maschinen und ihre Funktion an. \(\dots\) An Selbstbewußtsein mangelt es ihm dabei nicht.” (S. 49 f.) Vom Vokabular der Scholastik abgewandt, kreierte er neue, anscheinend nur ihm eigene Fachbegriffe; etwa: “Das aus ars und ingenium zusammengefügte artingenium bezeichnete eine Maschine oder ein Gerät. Gleiche Bedeutung hatte internatum.” (S. 53)
Der praktische Versuch hatte nicht im Zentrum der mittelalterlichen Naturphilosophie gestanden; “Fontana zeigte sich offen für die praktische Anwendung, er baute selbst Uhren, führte persönlich Versuche durch und empfahl sie auch anderen.” (S. 55) Nach einem Exkurs über Geschwindigkeitsmessung und Impetustheorie, mit Blick auf den jeweils aktuellen Stand zwischen Aristoteles und Fontana, vor allem auf die “neue Physik” des 14. Jahrhunderts. “Der Student [Fontana] beschrieb seinen wißbegierigen Freunden nicht nur systematisch und detailreich, wie ein Gerät zu bauen war, sondern lieferte zugleich Erklärungen dafür, warum die Apparatur funktioniert oder nicht.” (S. 68)
Teil II der Dractatus de instrumentis: Das Secretum de thesauro experimentorum ymaginationis hominum, einzig als Abschrift im undatierten Pergamentkodex Lat. nouv. acq. 635, BN Paris (6), überliefert; mehrfach erfolgt Vergleich mit Cod. icon. 242, BSB München (5). “Fontanas Chiffren basieren auf einem geometrischen Konzept, tragen aber noch Züge der lateinischen Buchstaben, an deren Stelle sie treten.” (S. 75); “Geben die Absicht einer möglichst schwierigen Verschlüsselung spricht die geradezu leserfreundliche Anordnung des Textes.” (S. 76) Die Motive der 55 Illustrationen – Memorierwalze; Syphon; Kombinationsschloßausführlich; usw. – “lassen auf einen weitgespannten wissenschaftlichen und technischen Horizont des Autors schließen, und auf ein Interesse an Experimenten.” (S. 77) – Die Literaturverweise auf das originale Werk Fontanas könnten an dieser Stelle deutlicher sein!
In 5 Das Insert: Der Tractatus de instrumentis artis memorie – innerhalb des Secretum – has man es “mit einem exteriorisierten Gedächtnis in der Gestalt von Geräten zu tun \(\dots\) Mangels Überlieferung wußten wir von solchen Apparaturen bisher nichts.” (S. 81); Text und Bild sind einander zweifelsfrei zugeordnet. In anderen Abschnitten des Secretum “haben die Bilder ganz andere, offensichtlich mnemotechnische, associzative Funktionen.” (S. 83)
In 5.2 Text und Übersetzung werden gemäß(6) die “Dictio tertia” und der dort enthaltene “Tractatus de instrumentis” mit Korrekturen gegenüber einer Transkription sowohl original als auch deutsch übersetzt vorgeführt, d.h. Aufbau und Wirkungsweise von zwölf “Instrumenten der Gedächtniskunst”; etwa: die Columpna ist eine Achse, auf der mehrere gleich große Kreisscheiben am Umfang das Alphabet tragen, so dass “was zu memorieren war” in einer Zeile erscheint. Viele Skizzen und Abbildungen sowie ein 5.3 Index verborum tractatus erleichtern das Verständnis. – 6 Analyse der Instrumente glieder in 6.1 Beschreibung der Instrumente gruppenweise die zwölf Apparate; z.B.: Speculum, Columpna, Claviculae: “Aus der traditionellen ars memorativa haben die Buchstaben die Funktion der Gedächtnisbilder übernommen. Sie stehen für Gottes Grundwürden\(\dots\)” (S. 110) gilt für das Speculum, bei dem einige zentriert drehbare Räder jeweils nahe dem Umfang das gesamte Alphabet tragen. – Ein langer Quader in Hochformat, das Arismetricum, besitzt an jeder Seite senkrecht je neun Löcher, für 1 bis 9, 10 bis 90, 100 is 900, 1000 bis 9000.
6.2 Die Instrumente als Vorläufer von Geräten der Informatik führt abschnittsweise, davon ausgehend, “dass Fontanas Geräte im Fractatus de instrumentis als früheste Vorläufer einiger informatischer Konzepte zu deuten sind” (S. 121), über allgemeine historische Fakten, jeweils mit Rückblick sowohl auf Fontana – “Wir glauben, Fontana interpretieren zu dürfen als den ersten Wissenschaftler, der wichtige Grundfragen der modernen Informationstechnologie vorausbedacht hat – und dies sogar vor der Erfindung der Buchdruckkunst.” (S. 124); “Gewißbehandelt Fontana alle Instrumente als Gedächtnismaschinen.” (S. 150); “Das natürliche Gedächtnis, so der Kerngedanke des Instrumentetraktats, lass sich als Maschine nachbilden, die Funktionsweise des mentalen Gedächtnisses auf ein instrumentelles übertragen.” (S. 149); “Klar ist zumindest, dass die Technik für eine maschinelle, durchaus komplexe polyalphabetische Verschlüsselung, wie man sie von Vigenère kennt, eine Generation vor Alberti existierte.” (S. 140) – als auch auf Raimundus Lullus, Athanasius Kircher, Gottfried Wilhelm Leibniz und viele andere bis an den modernen Stand heran; folglich wird resümiert: “Heute wird Leibniz und damit indirect auch Lullus als wichtigster Vorläufer der mathematischen Logik angesehen, die mit den fundamentalen Erkenntnissen von Kur Gödel und anderen Wissenschaftlern aus den 30iger Jahren des 20. Jahrhunderts das weite Feld der künstlichen Intelligenz eröffnete.” (S. 123).
Die Verff. dieses deutlich in sieben Abschnitte gegliederten Buches greifen ergiebig auf Quellenmaterial und auf Sekundärliteratur zurück, so dass vieles in Fußnoten durch Originalzitate verifiziert wird.

MSC:

01A40 History of mathematics in the 15th and 16th centuries, Renaissance
94A60 Cryptography
94B35 Decoding
01A35 History of mathematics in Late Antiquity and medieval Europe
01-02 Research exposition (monographs, survey articles) pertaining to history and biography

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