×

Zur Theorie der meromorphen Funktionen. (German) JFM 51.0254.05

In der Theorie der ganzen Funktionen \(g(x)\) beschäftigt man sich hauptsächlich mit den Beziehungen zwischen den beiden Funktionen \(M (r) = \operatorname{Max}|g(x)|\) für \(|x|=r\) und \(n(r,z)=\) Anzahl der \(z\)-Stellen in \(|x|<r\). Ist \begin{align*} \mu =& \varlimsup\frac{\log\log M(r)}{\log r} \;\text{die ``Ordnung'' von} \;\log M (r) \;\text{und} \\ \nu =& \varlimsup\frac{\log n(r,z)}{\log r} \;\text{diejenige von} \;n(r,z), \end{align*} so besagt der erste Hadamardsche Satz, daß stets \(\nu\leqq\mu\) ist. Hierdurch ist die Anzahlfunktion \(n(r,z)\) nach oben beschränkt. Nach unten bleiben offenbar alle Möglichkeiten offen, wenn man nur einen Wert \(z\) ins Auge faßt (vgl. \(e^x\) für \(z=0\)). Aber schon nicht mehr, wenn man zwei Werte \(z\) betrachtet; denn Borel hat den Picardschen Satz sehr wesentlich dahin verallgemeinert, daß er bewies: Ist \(\mu\) endlich, so ist für alle Werte von \(z\) mit höchstens einer Ausnahme \(\nu=\mu\).
Will man diese (und verwandte) Betrachtungen auf meromorphe Funktionen \(f(x)\) erweitern, so entsteht als erste Schwierigkeit die, daß \(M(r)\) sich nicht mehr als eine wachsende endliche Funktion von \(r\) definieren läßt. Der Begriff des Anwachsens scheint seinen Sinn zu verlieren. Borel vermeidet in seinen “Leçons sur les fonctions meromorphes” diese Schwierigkeit dadurch, daß er \(f(x)\) als Quotienten zweier ganzer Funktionen darstellt, im Nenner ein Weierstraßsches kanonisches Produkt wählend und als Ordnung von \(f(x)\) die größere der Ordnungen von Zähler und Nenner nehmend. Er hat dann den eben zitierten Satz dahin verallgemeinert, daß er für meromorphe Funktionen von endlicher Ordnung bewies, daß die Ordnung von \(n(r,z)\) für alle \(z\) mit höchstens zwei Ausnahmen gleich der Ordnung von \(f(x)\) ist.
Da bei diesen Untersuchungen von einer willkürlich gewählten Darstellungsform der meromorphen Funktion und nicht von ihren inneren Eigenschaften ausgegangen wird, so scheint es dem Verf. auf diesem von Borel eingeschlagenen Wege nicht möglich zu sein, eine allgemeine Theorie der meromorphen Funktionen zu entwickeln.
Das ist aber das Ziel des Verf. in der vorliegenden Arbeit.
Daher muß zunächst statt \(\log M(r)\) eine andre Hilfsgröße eingeführt werden. Zu dieser gelangt Verf. folgendermaßen: Als Ausgangspunkt wählt er die allgemeine Integralformel \[ \begin{split} \log f(x)=\frac1{2\pi}\int_0^{2\pi}\log|f(re^{i\vartheta})|\cdot \frac{re^{i\vartheta}+x}{re^{i\vartheta}-x}d\vartheta\sum_{|a_{\mu}|<r}\log\frac{r^2-\bar{a}_{\mu}x}{r(x-a_{\mu})} \\ +\sum_{|b_{\nu}|<r}\log\frac{r^2-\bar{b}_{\nu}x}{r(x-b_{\nu})} +i\cdot\text{Const}, \end{split} \] bei der \(f(x)\) in \(|x|\leqq r\) eindeutig und meromorph vorausgesetzt wird und \(a_{\mu}\) ihre dortigen Nullstellen, \(b_{\nu}\) ihre Pole durchläuft. Diese Formel liefert, wenn man \(x=\varrho e^{i\varphi}\) setzt und beiderseits den reellen Teil nimmt, die Poissonsche Integralformel und für \(x=0\) die Jensensche Formel. Sie wird darum die Poisson-Jensensche Integralformel genannt. – Weiter werden die folgenden Bezeichnungen eingeführt: \[ m(r,z)=\frac1{2\pi}\int_0^{2\pi}\overset+\log\left| \frac{1}{f(re^{i\vartheta})-z}\right|d\vartheta, \tag{1} \] bei der \(\overset+\log t\) die Zahl \(\log t\) oder Null bedeutet, je nachdem \(t>1\) oder \(0\leqq t\leqq 1\) ist. Für \(z=\infty\) soll außerdem \(\frac 1{f-z}\) durch \(f\) ersetzt werden. \[ N(r,z)=\int_0^r\frac{n(t,z)}{t}dt= \sum\limits_{r_{\nu}<r}\log\frac r{r_{\nu}(z)}, \tag{2} \] wenn \(r_{\nu}(z)\) die absoluten Beträge und \(n(r,z)\) die Anzahl der \(z\)-Stellen von \(f(x)\) in \(|x|<r\) bedeuten.
Dann lautet der erste Hauptsatz der Theorie: Zu jeder meromorphen Funktion \(f(x)\) gehört eine positive Funktion \(T(r)\) von folgenden Eigenschaften:
1. \(T(r)\) ist eine wachsende Funktion von \(r\) und eine konvexe Funktion von \(\log r\).
2. Es ist für jedes endliche oder unendliche \(z\) \[ m(r, z) + N(r, z) = T (r)+ O(1). \tag{I} \]
Da \(m(r,z)\) sozusagen ein Maß für die Stärke der mittleren Konvergenz der Funktion gegen den Wert \(z\) für \(r\to\infty\) angibt, und da \(N(r,z)\) die Dichte der \(z\)-Stellen mißt, so kann man die Summe beider als die “\(z\)-Komponente” in der Variation von \(f(x)\) für \(x\to\infty\) bezeichnen. Sie charakterisiert die Stärke der Affinität, welche die Funktion \(f(x)\) zum Werte \(z\) besitzt.
Der erste Hauptsatz drückt dann aus, daß sämtliche \(z\)-Komponenten gleich stark sind.
Die Klassifikation der meromorphen Funktionen geschieht nun in natürlichster Weise durch Einführung der Ordnung \[ \varlimsup_{r\to\infty}\frac{\log T(r)}{\log r}. \]
Es gelten Sätze wie diese:
a) Wenn \(T(r) = O(1)\) ist, so reduziert sich \(f(x)\) auf eine Konstante.
b) Wenn \(T(r) =O(\log r)\), so reduziert sich \(f(x)\) auf eine rationale Funktion.
c) Wenn \(T(r)=O(r^{\lambda})\), \(\lambda\) endlich, so ist \[ f(x)=x^{\alpha}\cdot e^{P_k(x)}\cdot\frac{\varPi_1(x)}{\varPi_2(x)}, \] wobei \(\alpha\) eine ganze Zahl ist, \(P_k(x)\) ein Polynom eines Grades \(\leqq\lambda\), und \(\varPi_1\) und \(\varPi_2\) kanonische Produkte, deren Geschlechter \(\leqq\lambda\) sind.
Tiefer führt nun die Frage nach der Stärke der einzelnen Teilkomponenten \(m\) und \(N\) in (I), – eine Frage, die zum Picardschen Ideenkreise gehört. Alle Erscheinungen in dieser Richtung werden beherrscht durch den zweiten Hauptsatz der Theorie: Sind \(a\), \(b\), \(c\) drei von einander verschiedene Zahlen (endlich oder \(\infty\)), so ist stets \[ T(r)\leqq N(r,a)+N(r,b)+N(r,c)-N_1(r)+S(r). \tag{II} \] Dabei ist \(N_1(r) =\displaystyle\int_0^r \frac{n_1(t)}{t}dt\), wenn \(n_1(t)\) die Anzahl der multiplen Stellen in \(|x|<r\) in der Weise abzählt, daß eine \(m\)-fache Stelle \((m-1)\)-mal gezählt wird. Und \(S(r)\) ist ein Restglied, für das die Abschätzung \(O(\log T (r))\) gilt außer möglicherweise im Falle einer Funktion von unendlicher Ordnung für eine Wertmenge \(r\) von endlichem Gesamtmaß.
Dieser Satz, der u. a. den Picardschen Satz enthält, leitet unschwer zu einer ganzen Reihe von Ergebnissen über das asymptotische Verhalten der einzelnen Komponenten \(m\) und \(N\) in (I).
Beide Sätze, auf ganze Funktionen angewendet, enthalten die wesentlichsten bis jetzt bekannten Resultate des Picardschen Fragenkreises, meist in erweiterter und verschärfter Form.
Da sich diese Sätze auf die asymptotischen Eigenschaften von \(f(x)\) für \(x\to\infty\) beziehen, ist klar, daß sie auch für das Verhalten von Funktionen in der Nähe isolierter wesentlich singulärer Stellen ausgesprochen werden können, in deren Umgebung die Funktion sonst eindeutig und meromorph ist.
Endlich – dies führt der 4. Teil der Arbeit aus – zeigt sich, daß die Methoden in nur wenig modifizierter Form auch für die Untersuchung von Funktionen benutzt werden können, die in einem festen Kreise, etwa dem Einheitskreis, eindeutig und meromorph sind.

PDFBibTeX XMLCite
Full Text: DOI

References:

[1] Blumenthal, O.: [5]Principes de la théorie des fonctions entières d’ordre infini (Paris, Gauthier-Villars, 1910). · JFM 41.0462.01
[2] Borel, É.: [4]Leçons sur les fonctions entières (Paris, Gauthier-Villars, 1900). [6]Leçons sur les fonctions méromorphes, (Paris, Gautheir-Villars, 1903).
[3] Collingwood, E. F.: [22]Sur quelques théorèmes de M. R. Nevanlinna (Comptes rendus, t. 179, novembre 1924, p. 955). · JFM 50.0213.03
[4] Dnjoy, A. [10]Sur les produits canoniques d’ordre infini (Thèse, Paris 1910).
[5] Fatou, P. [17]Séries trigonométriques et séries de Taylor (Acta mathematica, T. 30, 1906. p. 335–400). · JFM 37.0283.01 · doi:10.1007/BF02418579
[6] Hadamard, J.: [2]Étude sur les propriétés des fonctions entières et en particulier d’une fonction considerée par Riemann (Journal de Mathématique, 4e série IX, T. 1893, p. 171–215).
[7] Jensen J. L. W. V.: [1]Sur un nouvel et important théorème de la théorie des fonctions (Acta mathematica, T. 22, 1899, p. 359–364). · JFM 30.0364.02 · doi:10.1007/BF02417878
[8] Landau, E. undBohr, H.: [21]Über das Verhalten von {\(\zeta\)}(s) in der Nähe der Geraden {\(\sigma\)}=1 (Gött. Nachrichten, 1910, S. 303–330). · JFM 41.0290.01
[9] Lindelöf, E.: [8]Mémoire sur la théorie des fonctions entières de genre fini (Acta Soc. Sc. Fennicae, T. 31, 1902). [14]Sur les fonctions entières d’ordre entier (Ann. Éc. Norm. (3), T. XXII, 1905, p. 369–395). · JFM 36.0479.01
[10] Nevanlinna, F.: [9]Bemerkungen zur Theorie der ganzen Funktionen endlicher Ordnung (Soc. Sc. Fenn. Comment. Phys.-Math. II, 4, 1923). · JFM 49.0214.01
[11] Nevanlinna, R.: [11]Untersuchungen über den Picardschen Satz (Acta Soc. Sc. Fennicae, T. 50, No 6, 1924). [16]Über eine Klasse meromorpher Funktionen (Math. Annalen, Bd. 92, H. 3/4, 1924, S. 145–154). · JFM 50.0222.02
[12] Ostrowski, A.: [19]Über die Bedeutung der Jensenschen Formel für einige Fragen der komplexen Funktionentheorie (Acta litt. ac. scient. regiae univ. hung. Fransisco-Josephinae T. 1 f. 2, 1923, S. 1–8).
[13] Picard, É.: [3]Mémoire sur les fonctions entières (Ann. Éc. Norm. 2e série, T. IX, 1880, p. 145–166).
[14] Riesz F.: [20]Über die Randwerte einer analytischen Funktion (Math. Zeitschrift, Bd. 18, H, 1/2, 1923, S. 87–95). · JFM 49.0225.01 · doi:10.1007/BF01192397
[15] Riesz, F. u. M.: [18]Über die Randwerte analytischer Funktionen (Quatrième congrés des Math. Scand. à Stockholm 1916, p. 27–44).
[16] Valiron, G.: [7]Sur les fonctions entières d’ordre fini Bulletin des sciences math., 2e série, T. XLV, septembre 1921. [12]Sur les fonctions entières d’ordre entier (Comptes rendus, t. 174, 1922, p. 1054). [15]Lectures on the general theory of integral functions (Toulouse, 1923). · JFM 48.1219.02
[17] Wiman, A.: [13]Sur le cas d’exception dans la théorie des fonctions entières (Arkiv f. mat., astr. och fys., T. I, 1903, p. 327–345).
This reference list is based on information provided by the publisher or from digital mathematics libraries. Its items are heuristically matched to zbMATH identifiers and may contain data conversion errors. In some cases that data have been complemented/enhanced by data from zbMATH Open. This attempts to reflect the references listed in the original paper as accurately as possible without claiming completeness or a perfect matching.