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Ueber das Pfaff’sche Problem. (German) JFM 09.0249.03

Die Art, wie in dieser, an Umfang wie an Inhalt reichen Abhandlung das Pfaff’sche Problem formulirt wird, ist genau dieselbe, die auch Lie seiner Theorie des Pfaff’schen Problems (Arch. f. Math. og. Nat. 1876 siehe F. d. M. VIII. 212, JFM 08.0212.01) zu Grunde gelegt hat. Es handelt sich darum zu entscheiden, wann zwei gegebene lineare Differentialausdrücke erster Ordnung \[ (1)\quad\sum_{i=1}^{i=n}a_i(x_1 x_2\ldots x_n)d x_i \] und \[ (1^*)\quad\sum_{i=1}^{i=n}a_i'(x_1' x_2'\ldots x_n')d x_i' \] einander äquivatent sind, d. h. wann sie sich durch, sowohl in Betreff der \(x\), wie in Betreff der \(x'\) unabhängige Substitutionen in einander überführen lassen, woran sich dann für den Fall der Aequivalenz beider Ausdrücke die weitere Aufgabe reiht, alle Substitutionen zu finden, durch welche der eine Ausdruck in der andern transformirt werden kann. Aber die Gesichtspunkte, aus denen diese Aufgaben behandelt werden, sind in beiden Arbeiten ganz verschiedene. Während Lie gleich im Eingange mit Hülfe einiger wenigen einfachen Sätze aus der Theorie der partiellen Differentialgleichungen erster Ordnung den Fundamentalsatz gewinnt, dass die Gleichheit der Anzahl unabhängiger Functionen, welche die Normalformen bilden, die nothwendige und hinreichende Bedingung für die Aequivalenz der beiden Differentialausdrücke ist, und , nachdem er gezeigt, wie man auf algebraischen Wege erkennen kann, wieviel Functionen die Normalform eines gegebenen linearen Differentialausdrucks enthält, sein Augenmerk hauptsächlich darauf richtet, die Reduction auf die Normalform durch möglichst wenige Integrationen zu erreichen, fasst Frobenius das Problem rein algebraisch auf und lässt in Folge dessen, während er die algebraische Seite des Problems tiefer ergründet, die Frage, wie die bei jener Recuction successive auftretenden vollständigen Systeme am besten zu integriren seien, ganz unberührt.
Um den Gang seiner Untersuchungen, soweit dies ohne näheres Einigen in die Details möglich ist, kurz zu skizziren, wird es zweckmässig sein, namentlich den Ausgangspunkt etwas ausfḧrlicher hervorzuheben.
Wenn durch die \(n\) unabhängigen Substitutionen: \[ (2)\quad x_k=\varphi_k(x_1' x_2'\ldots x_n') \] und also auch durch ihre Auflösungen: \[ (2^{\ast})\quad x_k'=\varphi_k'(x_1x_2\ldots x_n) \] identisch wird: \[ \sum_{i=1}^{i=n}a_idx_i=\sum_{i=1}^{i=n}a_i'x_i', \] so zeigt sich, dass gleichzeitig die beiden Formenpaare: \[ (3)\quad \sum_{i=1}^{i=n}\sum_{k=1}^{k=n} a_{ik}u_iv_k, \sum_{i=1}^{i=n}a_iu_i \] und \[ (3^{\ast})\quad\sum_{i=1}^{i=n}\sum_{k=1}^{k=n}\alpha_{ik}u_i' v_k', \sum_{i=1}^{i=n}\alpha_iu_i', \] in denen \[ a_{ik}=\frac{\partial a_i}{\partial x_k}-\frac{\partial a_k}{\partial x_i} \] ist, und \(\alpha_i\) und \(\alpha_{ik}\) diejenigen Functionen von \(x_1\ldots x_n\) bezeichnen, die durch die Substitutionen \((2^{\ast})\) aus den Functionen \[ \alpha_i' \text{und} \alpha_{ik}'=\frac{\partial a_i'}{\partial x_k'}-\frac{\partial a_k'}{\partial x_i'} \] entstehen, durch congruente lineare Substitutionen mit nicht verschwindender Determinate \[ (4)\quad u_k=\sum_{i=1}^{i=n}x_{ki}u_i', v_k=\sum_{i=1}^{i=n}x_{ki}v_i' \] in einander übergeführt werden können.
Ist nun: \[ f(a_{11} a_{12}\ldots a_{nn} a_{1}\ldots a_{n})=0 \] der analytische Ausdruck irgend einer solchen Eigenschaft des Formenpaares (3), die ihm durch keine Transformation der angegebenen Art genommen werden kann, so ist auch für jedes äquivalente Formenpaar \((3^{\ast})\), d. h. für jedes Formenpaar \((3^{\ast})\), das aus dem ersteren durch Substitutionen von der Beschaffenheit (4) abgeleitet werden kann, identisch: \[ f(\alpha_{11}\alpha_{12}\ldots\alpha_{nn} \alpha_{1}\ldots\alpha_{n})=0. \] Unter den gemachten Voraussetzungen muss also diese Identität im Besondern auch für die oben definirten Functionen \(\alpha_{1}\) und \(\alpha_{ik}\) von \(x_1\ldots x_n\) bestehen. Dann aber kann sie nicht dadurch aufgehoben werden, dass man für die \(x_k\) ihre Werthe (2) substituirt, wodurch sie sich in: \[ f(\alpha_{11}'\alpha_{12}'\ldots\alpha_{nn}'\alpha_{1}'\ldots\alpha_{n}')=0 \] verwandelt.
Jede Eigenschaft des aus dem gegebenen Differentialausdrucke (1) abgeleiteten Formenpaares (3), die durch keine Transformation von der Form (4) zerstört wird, ist demnach zugleich eine invariante Eigenschaft des Ausdruckes (1) selbst oder eine Eigenschaft, die auch jeder äquivalente Ausdruck \((1^{\ast})\) besitzen muss. Hiernach bietet sich als erster Schritt zur Lösung des Problems die Aufgabe dar, die zur Aequivalenz der beiden Formenpaare (3) und \((3^{\ast})\) erforderlichen Bedingungen zu ermitteln.
Nun erkennt man leicht (§6 und 7), dass jede Transformation des Formanpaaras (3) durch unabhängige congruente lineare Substitutionen die höchsten Grade nich sämmtlich verchwindenen der Unterdeterminanten in den beiden Determinanten: \[ (5)\quad\left|\;\begin{matrix}\l\quad & \l\quad & \l\\ a_{11} & \ldots & a_{1n}\\ \hdotsfor3\\ a_{n1} & \ldots & a_{nn} \end{matrix}\;\right|\quad\text{und}\quad(6)\quad \left|\;\begin{matrix}\l\quad & \l\quad & \l\quad & \l\\ a_{11}& \ldots & a_{1n} & a_1\\ \hdotsfor4\\ a_{n1} & \ldots & a_{nn} & a_n\\ -a_1 & \ldots & -a_n & 0\end{matrix}\;\right| \] unverändert lässt, und aus einer Reihe höchst iteressanter Sätze über sehiefe Determinanten \(\S 4 \text{und} \S 5)\) (von denen namentlich nicht der Satz, dass in jeder solchen Daterminante der höchste Grad nicht sämmtlich verschwinderer Unterdeterminanten stets eine grade Zahl ist, eine fundamentale Wichtigkeit besitzt), ergiebt sich, dass diese h\"chsten Grade unzweideutig bestimmt sind durch Angabe ihres \(aritmetischen Mittels p.\) Die Gleichheit dieses arithmetischen Mittels ist also jedenfalls eine nothwendige Bedingung fur die Aequivalenz zweier Formenpaare \((3)\) und \((3^{\ast})\). Sie ist aber nicht bloss nothwendig, sondern auch hinreichend,denn man kann \((\S 8-11)\), wenn für zwei gegebene Formenpaare \(3\) und \((3^{\ast})\) die Invariante \(p\) denselben Werth besitzt, stets solche Substitutionen (4) finden, welche das eine Paar in das andere transformieren.
Aus dieser Untersuchung geht somit auch für die Aequivalenz zweier gegebenen linearen Differentialausdrücke \(1^{\text{ter}}\) Ordnung nur eine Bedingung hervor, dass die beide dieselbe Invariante \(p\) besitzen müssen. Es fragt sich aber, ob hier nicht noch andere Bedingungen hinzugefügt werden müssen.
Um dies zu entscheiden, bringt der Verfasser zunächst (§14-17) die bekannten Bedingungen, unter denen mehrere lineare partielle Differentialgleichungen \[ A_1^r\frac{\partial f}{\partial x_1}+ A_2^r\frac{\partial f}{\partial x_2}+ \cdots A_n^r\frac{\partial f}{\partial x_n}=0,\quad r=1,2,\ldots,n_m \] ein vollständiges System bilden, auf geeignete neue Formen und leitet mit Hülfe derselben (§18-20) einige interessante Sätze über vollständige und unvollständige Systeme von linearen totalen Differentialgleichungen ab. Mit diesen Hülfsmitteln ausgerüstet, gelingt es ihm dann (§22-26) streng nachzuweisen, dass man den Ausdruck (1), jenachdem seine Invariante \(p=2r\) oder \(=2r+1\) ist, stets entweder auf die Form; \[ (7)\quad\sum_{i=1}^{i=n}a_idx_i=\sum_{\varrho=1}^{\varrho=r} z_{r+\varrho}dz_{\varrho}, \] oder auf die Form: \[ (8)\quad\sum_{i=1}^{i=n}a_idx_i=dz_0+ \sum_{\varrho=1}^{\varrho=r} z_{r+\varrho}dz_{\varrho} \] bringen kann, wo die \(z\) unabhängige Functionen von \(x_1\ldots x_2\) sind. Hieraus aber erhellt unmittelbar, dass die Gleichheit der Invariante \(p\) auch hinreichend ist für die Aequivalenz zweier linearer Differentialausdrücke erster Ordnung und zugleich leuchtet ein, dass man die Invariante \(p\) des Differentialausdruckes 1) auch definiren kann als die Anzahl der unabhängigen Functionen \(z\), die in seiner Normalform 7) oder 8) auftreten, woraus die vollkomene Uebereinstimmung der Resultate von Frobenius mit denen von Lie ersichtlich wird.
Die beiden Normalformen 7) und 8) hatte Clebsch in seinen Arbeiten über das Pfaff’sche Problem (Borchardt J. LX. und LXI.) aufgestellt, dabei aber die Kriterien, durch die man erkennen kann, ob sich ein gegebener Differentialausdruck auf die Form 7) oder auf die Form 8) bringen lässt, nicht vollständigrichtig angegeben. Ueberdies vermisst der Verfasser sowohl bei Clebsch, wie auch bei Natani (Borchardt J. LVIII.) einen strengen Beweis für die Vollständigkeit der Systeme von linearen partiellen Differentialgleichungen, aus denen succesive die Functionen \(z\) zu bestimmen sind. Dieser strenge Beweis, wie überhaupt die ganze Reduction auf die Normalform ist in der voriliegenden Abhandlung in Folge des rein algebraischen Gesichtspunktes, der lang und complicirt. Es ist daher eine dankeswerthe Zugabe, dass der Verfasser am Schlusse zeigt, wie sich aus der Verbindung einiger Sätze seiner Arbeit mit dem Satze von Clebsch, nach welchem jeder Differentialausdruck \[ \sum_{i=1}^{i=2r}a_idx_i, \] für welchen die Determinante \[ \sum \pm a_{11} a_{22}\ldots a_{2r,2r} \] nicht Null ist, auf eine Normalform mit \(2r\) unabhängigen Functionen gebracht werden kann, ein einfacherer Beweis des Fundamentaltheorems ergiebt, dass man den Ausdruck 1) stets auf die Form 7) oder 8) bringen kann, je nachdem seine Invariante \(p=2r\) oder \(=2r+1\) ist.

MSC:

34-XX Ordinary differential equations

Citations:

JFM 08.0212.01
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Full Text: Crelle EuDML